Abschied nehmen
Die erste wichtige Ablösung ist der endgültige Abschied von der Kindheit. Eigentlich ist jede Kindheit ein Abschied auf Raten: Die ersten Schritte, der Kindergarten, die Schule, die ersten Diskobesuche, Streitereien in der Pubertät über Ausgehzeiten, Kleidung, Frisur und Freunde bis hin zum Auszug aus dem Haus. Für den Jugendlichen ist das ein vielversprechender Neuanfang, aber auch eine emotionale Belastung. Schließlich bedeutet umziehen weitaus mehr, als den Wohnsitz zu verlegen. Man lässt auch Sicherheit, viele schöne Jahre und viele kleine Alltagsdramen zurück. Für die Eltern ändert sich auch einiges. Ihr Zuhause fühlt sich plötzlich leer an. Oft haben sie einen Großteil ihres Lebens auf die Kinder ausgerichtet und geraten jetzt in die sogenannte Empty-Nest-Phase: Sie sind nicht mehr eine Familie mit Kindern, sondern müssen den Weg zurück zum Paar finden. Sie müssen Abläufe ändern, Aufgaben neu verteilen und möglicherweise zur einer Kommunikation als Paar zurückfinden oder überhaupt ihre Partnerschaft auf ein neues Fundament stellen. Es ist aber auch eine Chance: Sie sind nun nicht mehr hauptberuflich Vater oder Mutter, sondern wieder freie und unabhängige Persönlichkeiten mit Zeit zur Erfüllung ihrer eigenen Träume und Bedürfnisse.
Eine weitere wichtige Phase ist das Älterwerden, beginnend mit dem Abschied von Jugend und Schönheit, gefolgt von einem zunehmenden körperlichen Leistungsabbau und vermehrten gesundheitlichen Problemen. Wenn man sich darüber im klaren ist, dass alt zu sein keine Schande ist und dass Älterwerden nicht bedeutet, überflüssig und bedeutungslos zu sein, kommt man besser damit zurecht. Man weiß z.B. oft immer noch nicht, was man will, aber sehr deutlich, was man keinesfalls will. Es ist eine Lebensphase, in der die meisten Menschen nichts mehr „tun müssen“ und schon so viel erlebt und gesehen haben, dass sich eine gewisse Abgeklärtheit einstellt.
In allen Lebensphasen gibt es Ereignisse wie Trennungen, Scheidungen, Umzüge, Verlust eines Arbeitsplatzes, Unfälle, Krankheiten oder Abschied von einem geliebten Haustier, die uns zwingen, uns mit dem Thema Ablösen und Loslassen zu beschäftigen. Wir werden so immer wieder daran erinnert, dass alles vergänglich ist und wie wichtig das Leben im Jetzt und Hier ist.
Wenn ein Mensch dann alters- oder krankheitsbedingt ein betreutes Wohnen in Anspruch nehmen oder in ein Pflegeheim umziehen muss, heißt es endgültig Abschied nehmen von lieb gewordenen Dingen. Der bisherige Lebensstil muss ganz aufgegeben und Souvenire an ein ganzes Leben müssen zurückgelassen werden. Spätestens dann erkennt man, das unser „Habenwollen“, das uns einen großen Teil des Lebens dazu veranlasst hat, Dinge anzuschaffen und zu horten, die wir manchmal gar nicht benutzen, nicht annähernd so wichtig ist wie das „Sein“, die Liebe, die Freundschaften, die emotionalen Kontakte, die Erinnerungen an ein gelebtes Leben, letztlich die grundlegenden Dinge, die das Menschsein ausmachen.
Der schwierigste Abschied ist wohl der von einem lieben Verstorbenen, der eine Lücke im eigenen Leben hinterlässt. Abschied von einem Verstorbenen zu nehmen bedeutet, dass man dessen Tod akzeptieren muss. Der Tod eines lieben Menschen löst in uns eine Reihe verschiedener Gefühle aus. Man unterschiedet generell zwischen 4 Trauerphasen. In der ersten Phase nach dem Sterbefall verfällt man in eine Art Schockstarre und will nicht wahrhaben, dass der Todesfall tatsächlich eingetreten ist. In der zweiten Phase kommen starke Emotionen hoch, die oft kaum auszuhalten sind und einem den Boden unter den Füßen wegziehen können. Wut, Schmerz, Zorn, Schuldgefühle und sogar Verzweiflung wechseln einander ab. Wie lange diese Phase andauert, hängt davon ab, wie eng die Beziehung zu dem Verstorbenen war und wie sehr man die eigenen Gefühle zulässt. In der dritten Phase gewöhnt man sich nach und nach an die veränderte Situation.Es kommen Phasen, in denen man halbwegs gut mit der Trauer zurecht kommt. Man pflegt Erinnerungen, besucht z.B. Orte, an denen man mit dem Verstorbenen gewesen ist, und führt häufig innere Zwiegespräche mit ihm. Der Tote wird zu einer Art innerer Begleiter. In der vierten - abschließenden - Phase des Trauerprozesses ist die Trauer nicht mehr allgegenwärtig. Der Zurückgebliebene kann loslassen, neuen Lebensmut fassen und neue Lebensaufgaben in Angriff nehmen. Der Schmerz über den Verlust des Verstorbenen tritt immer mehr in den Hintergrund, aber die Erinnerungen bleiben.
Erleichtert werden kann diese innere Trauerarbeit durch die Anteilnahme von Angehörigen, Freunden und Bekannten, durch gemeinsame Gespräche über den Verstorbenen, durch das Aufschreiben von Gedanken oder Erinnerungen, durch Ablenkungen, durch Fürsorglichkeit sich selbst gegenüber und durch das Wissen, dass aller Schmerz einmal aufhört.
Wer sich ernsthaft für Spiritualität interessiert, weiß, dass die Verstorbenen um uns herum sind und auch versuchen, sich bei den Lebenden bemerkbar zu machen. Es kann sein, dass man sich plötzlich getröstet und umarmt fühlt, ein Lied hört, dass einen mit dem Verstorbenen verbindet oder ihn in seinen Träumen sieht. Leider sind wir nicht darin geübt, diese Signale wahrzunehmen und richtig zu interpretieren. Da könnte die Hilfe eines geschulten Mediums von Nutzen sein, das eine Verbindung zu geistigen Welt herstellen und Botschaften von Verstorbenen durchgeben kann. Allerdings ist das nur möglich, wenn der Verstorbene das auch will – Kontakte zu bestimmten Personen in der geistigen Welt kann man sich zwar wünschen, aber nicht bestellen.
Verfasserin: Renate Meyer
„Das schönste Denkmal, das ein Mensch bekommen kann, steht nicht auf irgendeinem Platz, sondern im Herzen seiner Mitmenschen.“ Albert Schweitzer